Das Thema Suffizienz erhält immer mehr Aufmerksamkeit. In Frankreich hat sich das Konzept „sobriété énergétique“ etabliert und in Österreich haben Ministerien Suffizienzmaßnahmen in ihre offiziellen Pläne aufgenommen. Der enorme Material- und Energie-Hunger unserer Gesellschaften kann mit erneuerbaren Ressourcen nicht gestillt werden, daher braucht es Suffizienz. Was aber genau ist das?
Suffizienz ist mehr als Verhaltensänderung
Suffizienz ist die Philosophie der Genügsamkeit. Ein Suffizienz-Lebensstil kann so aussehen: weniger bis gar nicht mehr fliegen, im Alltag die Wege zu Fuß, mit der Bahn oder mit dem Rad zurücklegen. Auch weniger arbeiten, sich vegetarisch oder vegan ernähren und die Geräte des täglichen Bedarfs mit anderen teilen sind Aspekte von Suffizienz. So gesehen geht es vor allem um individuelle Verhaltensänderung und die Verantwortung dafür wird schnell dem privaten Bereich zugeschoben. Aber das wäre eine verkürzte Vorstellung von Suffizienz.
Genügsamkeit war bislang nur in Krisen wirklich massentauglich. In Normalzeiten findet sie praktisch nur das kleine Milieu der postmaterialistischen Öko-Pioniere attraktiv. Dieses sogenannte „postmaterielle Milieu“ in der einkommensstarken Klasse ist für seine Anerkennung durch andere nicht auf Einfamilienhäuser, Autos, Fernreisen und dergleichen angewiesen. Daher ist Suffizienz für diese Gruppe das Normale. In dieser kleinen Nische ist Suffizienz ein Selbstläufer.
Wenn Suffizienz aber für die breite Masse der Gesellschaft eine naheliegende Handlungsoption werden und die Lebensqualität steigern soll, müssen sich die politischen Rahmenbedingungen ändern. Es ist also Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Suffizienz für alle zur naheliegendsten Option wird und einen Gewinn für die Lebensqualität darstellt. Mittel- bis langfristig ist es nicht effektiv, dafür nur auf Informations- und Werbekampagnen zu setzen. Deren Wirkung ist begrenzt und nutzt sich mit der Zeit ab, sie wirken häufig bevormundend und nicht ermutigend. Stattdessen sind Maßnahmen gefragt, die suffizientes Verhalten fördern und attraktiver machen. Wie der Umweltwissenschaftler Michael Kopatz schreibt: Nicht die Verhaltensweisen müssen geändert werden, sondern die Verhältnisse.
So braucht es z.B. einen leichteren Zugang zu umweltfreundlichen Produkten (durch Platzierung, Preisgestaltung), verkehrsberuhigte und autofreie Quartiere, die Förderung von Co-Working-Spaces auf dem Land und progressive Energietarife. Niedrige Verbräuche können von festen Preisbestandteilen befreit werden, während höhere Verbräuche stärker mit Abgaben belastet werden. Dadurch erhalten Vielverbraucher*innen einen Sparanreiz – solche progressiven Tarife sind für Strom, aber auch für viele andere Bereiche denkbar.
Es gibt bereits sehr viele Ideen für Suffizienzpolitik und funktionierende Beispiele aus der Praxis. Mehr als 300 Instrumente hat die Nachwuchsgruppe EnSu in einer offenen Datenbank zusammengestellt.
Viele Bürger*innen wollen mehr Suffizienzpolitik
Ist Suffizienzpolitik eine unverzichtbare Strategie für eine lebenswerte Zukunft, oder wäre sie ein großer Fehler? Das ist in unterschiedlichen politischen Arenen wie dem Parlament, Gerichten, Behörden und der Öffentlichkeit umstritten.
Die Nachwuchsforschungsgruppe EnSu hat eine vergleichende Inhaltsanalyse der nationalen Energie- und Klimapläne (NECPs) von EU-Staaten und der Empfehlungen von Bürger*innenräten auf nationaler Ebene in zehn europäischen Staaten sowie der EU durchgeführt. Die Empfehlungen der Bürger*innenräte beinhalten 332 Suffizienzmaßnahmen (dies entspricht einem Anteil von 39 Prozent an allen Klimaschutzmaßnahmen), womit der Anteil je nach Land drei bis sechs Mal über dem Anteil in den offiziellen Regierungsdokumenten liegt.
Die meisten Maßnahmen beziehen sich auf den Mobilitätssektor, die wenigsten auf den Gebäudesektor. Anders als bei den NECPs werden ordnungspolitische Instrumente mit Abstand am häufigsten vorgeschlagen, z. B. eine Mindestgarantiezeit für Produkte von 10 Jahren. Folglich können die Empfehlungen der Bürger*innenräte als Forderung nach einer Suffizienzwende mit Fokus auf Ordnungspolitik interpretiert werden.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die untergeordnete Rolle von Suffizienz in der gegenwärtigen Klimaschutzpolitik nicht per se auf einen Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung zurückzuführen ist. Sie ist wahrscheinlich vielmehr das Resultat von fehlendem Mut seitens der Politik, der Organisation politischer Entscheidungsprozesse und dem Einfluss von machtvollen Lobbygruppen.
In unserer Demokratie kommt es letztlich darauf an, in politischen Prozessen Mehrheiten für Suffizienz als politische Strategie zu erzeugen. Das kann durch drei Faktoren gelingen. Erstens muss Suffizienz eine gangbare Problemlösung darstellen, wie beispielsweise die Sparsamkeit während der Gaskrise im Winter 2022/23. Zweitens braucht es machtvolle Akteure in politischen Prozessen, die sich für Suffizienzmaßnahmen einsetzen. Drittens braucht es kluge Ideen für Politikinstrumente, die von unterschiedlichen Gruppen entwickelt werden können.
Suffizienz sollte nicht mit platter Verbotspolitik gleichgesetzt werden
Zwei Designprinzipien können die Umsetzung von Suffizienz enorm erleichtern und sollten daher beachtet werden. Beide Prinzipien sind wichtig, weil Suffizienzmaßnahmen sonst aus Angst vor der „Verbotskeule“ verhindert werden.
- Pull vor Push
Anreize und Angebote („Pull“) kommen vor Vorschriften und Einschränkung („Push“). Ein günstiger oder gar kostenfreier Nahverkehr, gute Bezahlung für die Arbeiter:innen in den kommunalen Verkehrsbetrieben, bessere Infrastruktur sowie höhere Frequenz und Verlässlichkeit sind zuerst umzusetzen. Erst danach kann und muss man sich ernsthaft mit der Abschaffung von Entfernungspauschalen („Pendlerpauschale“) und der höheren Besteuerung von PKW-Besitz oder auch der Reduzierung von Parkmöglichkeiten auseinandersetzen.
- Sozialer Schutz
Von Beginn an müssen Verteilungswirkungen und Belastungen von Suffizienz mitberücksichtigt und vermieden werden. Beispiel Mindestbelegungsquote: In Zürich muss die Zahl der Bewohnenden einer Wohnung mindestens der Zimmerzahl -1 entsprechen. In 4-Zimmer-Wohnungen müssen also stets mindestens drei Menschen leben. Ist das nicht mehr der Fall, bekommen die Bewohnenden in den folgenden Jahren bis zu drei Alternativangebote für kleinere Wohnungen, von denen sie sich eines aussuchen können. In Zürich greift diese Regelung in Wohnungen der Stadt und bei vielen Genossenschaften, die dort sehr verbreitet sind. Sie bieten ein lebenslanges Wohnrecht und ausreichend kleine Wohnungen.
Suffizienz hat ein hohes Klimaschutz-Potenzial
Nach dem 2022er-Bericht des Weltklimarates können Suffizienz-Maßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit die direkten und indirekten Treibhausgasemissionen um 40 bis 70 Prozent reduzieren (im Vergleich zu 1990) Das Klimaschutz-Potential von Suffizienz ist somit deutlich größer als das anderer Strategien die medial stärker im Vordergrund stehen.
Eine umfangreiche Meta-Studie (d.h. eine Auswertung vieler Einzelstudien) identifizierte die effektivsten Suffizienz-Maßnahmen. Das sind im Einzelnen:
- Autofreies Leben, im Mittel 2 Tonnen Treibhausgase weniger pro Kopf
- Weniger Fliegen, im Mittel 1,9 Tonnen Treibhausgase weniger pro Kopf
- Vegane Ernährung, im Mittel 0,9 Tonnen Treibhausgase weniger pro Kopf
Häufig begegnet einem die Frage, wie sich solche Maßnahmen auf die Wirtschaft auswirken. Was heißt Suffizienz z. B. für die Deutsche Auto-Industrie? Nach einer Studie im Auftrag der Hans Böckler Stiftung heißt ein Rückgang der Verkehrsleistung, weniger Autos und der Ausbau von öffentlichem Verkehr und geteilter Mobilität, dass es rund 100.000 Arbeitsplätze weniger geben wird. Die Suffizienzstrategie benötigt deshalb eine strukturpolitische Flankierung. Sie sollte Ausstiegspläne und Investitionen in die Infrastrukturen und die Bildungseinrichtungen von Regionen umfassen, die heute noch strukturell von beispielsweise der Auto-Industrie und der Tierwirtschaft abhängig sind, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Suffizienz und Freiheit können miteinander versöhnt werden
Ein Grundgedanke von Suffizienz ist es, die Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung mit der Einhaltung ökologischer Grenzen in Übereinstimmung zu bringen. Damit gehört Suffizienz kategorisch zur ökoliberalen Umweltpolitik.
Wie das Bundesverfassungsgericht urteilte, ist es die Aufgabe des Staates, durch den Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen auch die Rechte künftiger Generationen zu sichern. Dazu gehört auch, die Lasten des Klimaschutzes auf der Zeitachse gerecht zu verteilen, da ausbleibender Klimaschutz heute die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen einschränkt.
Eine Möglichkeit zur Umsetzung liberaler Suffizienzpolitik ist die Einführung persönlicher Emissionsgrenzen. Die Pflicht zur Nutzung einer „CO2-Kreditkarte“ für besonders klimaschädliche Güter kann helfen, Freiheit und Bewahrung der Natur in Einklang zu bringen. Noch wichtiger sind Infrastrukturen, die suffizienzorientiertes Handeln ermöglichen. Beispielsweise Verkehrsberuhigungen, Fahrrad-Infrastruktur und kostengünstiger, suffizienter Wohnraum heben existierende Blockaden für suffizientes Verhalten auf.
Herausgeberin:
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH
Döppersberg 19
42103 Wuppertal
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de